Die Utopie der Widerspenstigen: 40 Jahre Longo maï – 2013
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Unter dem Motto «Roden statt Reden» gründeten 1973 etwa dreissig Schweizer, Österreicher und Franzosen die Kooperative Longo maï in der französischen Provence und übernahmen drei verlassene Bauernhöfe. Die Landkommune wurde und wird bis heute als Gegenentwurf zur kapitalistischen Ausbeutung in den Unternehmen betrieben – ohne Lohnarbeit auf Basis der Selbstverwaltung.
Mit der Landwirtschaft als primären Erwerbszweig ist eine einzigartige Praxis einer alternativen Lebensgestaltung entstanden, der in allen ihren Aspekten und Dimensionen etwas Utopisches anhaftet. Dazu gehört die Art der Konsensfindung in der Gruppe ebenso wie das komplexe ökonomische System der selbstverwalteten Kooperativen untereinander.

Selbstverwaltung in der Gruppe
Das Leben in der Kooperative Longo maï ist seit Beginn von der Gemeinschaft geprägt. Essen in einem Saal mit zeder Gemeinschaft geprägt. Essen in einem Saal mit zehn, zwanzig oder siebzig Personen, genaue Koch- und Abwaschpläne, basisdemokratische Entscheidfindungen- es gibt viele Punkte die zum selbstverwalteten Leben in Longo maï gehören. Vielfältige basisdemokratische Prozesse bestimmen das alltägliche Leben in der Kooperative. Die Strukturen sind informell und können immer wieder hinterfragt werden; alle Mitglieder sind an der Entscheidungsfindung mitbeteiligt und können ihre Stimme einbringen. Wichtig ist insbesondere die Möglichkeit von Mitgliedern, eigene Projekte zu starten und andere dafür zu begeistern, ob es um den Bau eines Gewächshauses, die Installation von Sonnenkollektoren oder die Anschaffung einer Ziegenherde geht.
Bei Longo maï gibt es keine Abstimmungen, alle Aktivitäten werden von den Mitgliedern gemeinsam abgesprochen und direktdemokratisch entschieden. Wenn sich nur eine Person querstellt, wird das Vorhaben noch einmal neu überdacht, bis zur Konsensfindung. Ein wichtiges Gremium ist die regelmässig stattfindende Vollversammlung. In ihr werden die wichtigen Fragen behandelt. In den einzelnen Kooperativen dient sie zur Information, zur Koordination und zum Bestimmen des weiteren Vorgehens.
Landwirtschaft als Basis
Eine der politischen Grundüberzeugungen der Mitglieder von Longo maï besteht darin, dass eine Änderung der globalisierten Weltordnung auch auf Basis der Veränderung von Mikrostrukturen erfolgreich sein könne. Die landwirtschaftliche Produktion ist für Longo maï Lebensgrundlage; es wird eine möglichst umfassende Selbstversorgung angestrebt. Innerhalb der Region tauscht Longo maï mit anderen Betrieben Produkten oder verkauft sie unter Ausschaltung des Zwischenhandels direkt an die Konsumenten auf lokalen Märkten.
Bei der landwirtschaftlichen und gewerblichen Produktion wird darauf geachtet, dass nach Möglichkeit der gesamte Produktionsprozess in den Händen von Longo maï liegt. Vom Saatgut über das Getreide zum Brot, vom Baum zum Dachstuhl, vom Schaf zum Pullover, so folgen sich alle Herstellungsschritte innerhalb von Longo maï. Aus diesem Grund hat Longo maï 1976 auch eine Spinnerei bei Briançon gekauft, um dort die Rohwolle zu selektionieren, das Wollgarn zu spinnen und Textilien selbst zu produzieren.
Die Höfe von Longo maï stehen in der Regel in ehemals vernachlässigten Bergregionen von Europa, die aber inzwischen teilweise einen Aufschwung genommen haben.
Ökonomisches System der selbstverwalteten Kooperativen
Als dritter Themenschwerpunkt der Ausstellung wird das ökonomische System von Longo maï vorgestellt, welches sich teilweise markant von den üblichen Organisationsformen marktwirtschaftlicher Betriebe unterscheidet. Beispielsweise ist innerhalb von Longo maï für die Mitglieder kein Privatbesitz an Boden oder Gebäuden vorgesehen. Alles Land ist Eigentum der Stiftung und kann daher von den Mitgliedern auch nicht verkauft oder an ihre Kinder vererbt werden. Die Mitglieder von Longo maï zahlen sich keinen Lohn, gemeinsam übernehmen sie stattdessen die Ausgaben für ihren täglichen Bedarf. Nach wie vor wird der Selbstversorgung mit landwirtschaftlichen Produkten ein hoher Wert zugemessen. Zur Denkweise von Longo maï gehört, dass Gäste, die für ihren Aufenthalt nichts bezahlen müssen, in den Kooperativen immer willkommen sind.
Eine Wirtschaftlichkeit im klassischen Sinne wurde bei Longo maï nie angestrebt. Im Gegenteil, Longo maï möchte sich dem Trend der Dezimierung der Bauern durch die Agrarindustrie, welche Saatgut, Dünger, Wasser und die übrigen Ressourcen kontrolliert, entgegenstellen. Anstatt mit wenigen Menschen und dem Einsatz zahlreicher Maschinen einen möglichst hohen Geldbetrag zu erwirtschaften, setzt Longo maï auf das gegenteilige Konzept: Mit Menschenkraft und dem Einsatz natürlicher Ressourcen aus Boden, Wasser und Sonne Nahrungsmittel und Gebrauchsgüter zu produzieren.
Politische Interventionen
Longo maï will nicht nur durch das eigene Vorbild politisch wirken, sondern entwickelt selbst politische Aktionen in Transkarpatien, in Osteuropa, um das Mittelmeer und in Costa Rica. Ein Schwerpunkt der politischen Arbeit von Longo maï und dem eng kooperierenden Europäischen Bürgerforum (EBF) ist seit dem Jahr 2000 eine Sensibilisierungskampagne über das Schicksal der zumeist aus Afrika stammenden Landarbeiter in Andalusien, die in den Früchte- und Gemüseplantagen unter erbärmlichen Bedingungen beschäftigt werden. Seit den 1990er-Jahren unterhält Longo maï Kontakte in Mali und unterstützte später das Dorf Falea in seinem Kampf gegen eine Uranmine. Die Saatgutkampagne «Zukunft säen Vielfalt ernten» war gegen die europäischen Gesetze gerichtet, welche die Aneignung (Patentierung) des Saatgutes durch die grossen Konzerne ermöglicht hätten. Weiter setzt sich Longo maï für die Sans Papiers in verschiedenen Ländern ein und unterhält zahlreiche Kontakte mit verwandten Projekten.
Katalog: Die Utopie der Widerspenstigen [PDF de] [PDF fr]






