Schreibrausch: Faszination Inspiration – 2017
Strauhof Zürich
«Schreibrausch» thematisiert die Verbindung ekstatischer Momente und literarischer Inspiration. Als «furor poeticus» existiert seit der Antike die Vorstellung, dass wahre Literatur nur im Zustand rauschhafter Entrückung geschrieben werde. Die Ausstellung im Strauhof will dieses Phänomen in all seinen Höhen und Tiefen ausloten.
Zum einen ist die Ausstellung den diversen Schreibprozessen und -praktiken gewidmet: Wie bringt man sich zum Schreiben? Was tun, wenn es nicht läuft? Diese Frage treibt Schriftstellerinnen und Schriftsteller seit jeher um. Und sie bedienen sich dabei verschiedener Methoden, um in Schreibfluss zu gelangen, der sich dann bestenfalls bis zum Schreibrausch steigern kann. Neben substantiellen Enthemmern wie Alkohol, Opiaten und anderen Stimulanzien gibt es auch experimentelle Techniken, um ein gelöstes Schreiben zu befördern- so zum Beispiel die «écriture automatique» der Surrealisten oder das Cut-Up-Verfahren der Beat-Literaten. Nicht zuletzt zielen solche Experimente im Resultat auch darauf ab, durch die Texte selbst einen Rauschzustand zu erzeugen oder mindestens eine rauschhafte Wahrnehmung zu simulieren.
Zum anderen beleuchtet die Ausstellung dann spezifische Ausprägungen rauschhaften Schreibens: So schwierig der Anfang mitunter auch sein kann- umso grösser ist die Euphorie, wenn das Schreiben plötzlich wie von selbst läuft. Die Literaturgeschichte kennt zahlreiche Aussagen, die von solchen Momenten höchster Produktivität sprechen. Doch wie manifestiert sich der flüchtige Augenblick des Rausches? Blitznotizen, randvoll beschriebene Blätter, verdichtete Texte oder hektische Schriftzüge, ellenlange Papierrollen und mehrfach angeklebte Manuskriptstreifen zeugen noch heute sichtbar von der besonderen Intensität beim Schreiben. Nicht immer entsteht dabei Sinnvolles und Verständliches. Der Rausch ist nur die eine Seite, auf ihn folgen oft zähe Stunden der Überarbeitung.
Die Ausstellung geht den Spuren und Geschichten solch rauschhafter Schreibmomente nach und stellt schliesslich auch die Frage nach der Kehrseite des Rausches: seiner lähmenden Wirkung sowie seiner pathologischen Seite bei zwanghaftem Schreibverhalten.

Der Topos des «furor poeticus» findet sich in der Renaissance wie im Geniekult der Goethezeit wieder und erlebt ein erstaunliches Revival in der Moderne, prominent etwa bei Kafka und Rilke. Und noch in unseren Tagen erzählen viele Autorinnen und Autoren von der Erfahrung eines «Schreibrausches». Die Schilderung aussergewöhnlicher Entstehungsbedingungen gehört fast schon obligatorisch als Begleitnarrativ zum literarischen Text dazu.
Die Ausstellung verfolgt die verschiedenen Stadien im Schreibprozess: von der notorischen Blockade bis zu exzessiven Formen der Graphomanie. Die BesucherInnen sind eingeladen, in die faszinierende Welt dichterischer Inspiration einzutauchen und den Rausch der Kreativität in Schriftbildern, Schreibszenen und schriftstellerischen Selbstaussagen zu erkunden. Mit Exponaten von Peter Bichsel, Hermann Burger, Jean Cocteau, Friedrich Dürrenmatt, Marie von Ebner-Eschenbach, Jack Kerouac, Thomas Mann, Friederike Mayröcker, Mariella Mehr, Paul Nizon, Meret Oppenheim, Marcel Proust, Robert Walser, Adolf Wölfli u.v.m.
Die Angst vor dem weissen Blatt
Sinnbild für die lähmende Schreibblockade ist das weisse Blatt- Symbol des horror vacui, der Angst vor der Leere und der Unfähigkeit, sie zu überwinden. Ein Druck, der zuweilen so stark und belastend werden kann, dass ein Autor (wie z.B. Wolfgang Koeppen) lange nicht über den ersten Satz hinwegkommt. Immer wieder bricht er ab oder setzt neu an, unzählige Male wiederholt er ein und denselben Satz, der wohl nicht von ungefähr auch das Gefühl der Angst zum Ausdruck bringt: «Meine Mutter fürchtete die Schlangen.»
Schreiben im Rausch
Mannigfach sind deshalb die Versuche, den Geist zu befreien und innere Blockaden zu lösen, um ungehemmt schreiben zu können. Der Schreibfuror wurde, wo er sich nicht von allein einstellen wollte, also durchaus auch künstlich befeuert. Dazu dienten im Laufe der Literaturgeschichte die verschiedensten Stimulanzien: von den eher bürgerlichen Genussmitteln Nikotin und Alkohol über Modedrogen der Moderne (wie Opium, Haschisch und Kokain) bis hin zu psychedelischen Substanzen oder Heroin.
Cut-up & Co.: Experimentelle Schreibformen
Anstatt im Rausch zu schreiben, erprobten manche Autoren experimentelle Techniken, um sich in den Rausch zu schreiben. Die Surrealisten entwickelten mit der «écriture automatique» ein Verfahren, das die normale Verstandestätigkeit ausser Kraft setzen und in unbewusste Tiefenschichten vordringen sollte. Dazu erfanden sie kollektive Schreibweisen wie den cadavre exquis, welche eine kohärente und vernünftige Entstehung des Textes unterlaufen sollten. Eine ähnliche Intention verfolgte auch die- besonders von William S. Burroughs im Umfeld der amerikanischen Beat-Generation propagierte Cut-Up-Technik. Hier sollte durch willkürliches Zerschneiden und Neumontieren von Texten eine Kontrolle des Bewusstseins beim Schreiben ausgeschaltet und gleichsam auch der herrschende, rationalisierte Diskurs unterwandert werden.
Im Rausch des Schreibens
Während beim automatischen Schreiben noch die assoziative Praxis der Psychoanalyse als Vorbild diente, so orientiert sich Jack Kerouac an der Improvisation des Free Jazz. Wie ein Saxophonist will er die Klaviatur seiner Schreibmaschine bedienen, einem Bauchgefühl folgend, ohne vorher gross zu überlegen. Dabei spielt die Geschwindigkeit beim Schreiben, die gerade durch den Einsatz der Schreibmaschine massiv erhöht werden konnte, eine eminent wichtige Rolle. Doch schon lange zuvor gaben Autoren mit Schreibrekorden und damit an, dass sie ihre Werke innert kürzester Zeit verfasst hätten. So erzählte Johann Wolfgang von Goethe: «Unter solchen Umständen, nach so langen und vielen geheimen Vorbereitungen, schrieb ich den «Werther» in vier Wochen, ohne dass ein Schema des Ganzen, oder die Behandlung eines Teils irgend vorher wäre zu Papier gebracht gewesen. Ich hab das Werklein ziemlich unbewusst, einem Nachtwandler ähnlich, geschrieben.»
Planvolles Schreiben
Vielleicht gehört die Produktivkraft der Rauschmittel genau so wie der «furor poeticus» ins Reich der Mythen verbannt- es gilt wohl eher das Bonmot des nüchternen Routiniers Thomas Mann, dass viele Schriftsteller ihr Werk nicht wegen, sondern trotz des Alkohols geschaffen haben. Gerade Thomas Mann ist ein gutes Beispiel dafür, wie durch ein planvolles, regelmässiges Tagewerk ein immenses Gesamtwerk entsteht.
Vom Rausch zum Rauschen
Wo der Schreibrausch in Hypergraphie umschlägt, in das zwanghafte Verlangen, Blätter randvoll zu schreiben, da stösst er nicht selten an die Grenzen der Verständlichkeit oder- im Manuskript betrachtet- an die Grenzen der Lesbarkeit. Das andere Extrem des leeren Blattes der Schreibblockade markiert chaotische Fülle der Kakographie. Sich überlagernde Schreibspuren, kreuz und quer beschriftete Seiten, wilde Graphismen und verdichtete Schriftzüge, um den letzten Winkel eines Blattrandes auszufüllen- solche Manuskripte, wie jenes von Marie von Ebner-Eschenbach, wo vor lauter Schrift nichts mehr gelesen werden kann, sind das geschriebene Äquivalent zum weissen Rauschen.











